Kirsten Boie: Mit Babys Bücher angucken?

„Was für eine verrückte Idee! Babys können doch noch nicht mal sprechen! Die verstehen das doch noch gar nicht!“ Aber doch! Genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Alle Babys mögen es, mit einem Menschen, den sie lieb haben, Bücher zu begucken: Auf dem Schoß, aneinander gekuschelt, bringt das für beide eine ganz besondere Erfahrung von Nähe. Jeden Tag eine halbe Stunde, möglichst immer zur selben Zeit, verlässlich und gemütlich: Dieses Gefühl von Vergnügen, Zuwendung und Wohlbefinden verbinden Bücherbabys dann für den Rest ihres Lebens mit Büchern. Für Bücherbabys ist ein Buch darum auch später ein Anblick, der Freude auslöst, und kein Lerngegenstand, vor dem sie Angst haben. In der Schule finden sie damit einen leichteren und fröhlicheren Zugang zum Lernen. Das haben Untersuchungen in vielen Ländern bestätigt.

Mit Büchern geben wir unseren Kindern einen besseren Start ins Leben. Schon mit einer halben Stunde Bücherzeit am Tag lernen Bücherbabys ganz nebenbei ziemlich viel. Sie können früher und mit mehr Vergnügen sprechen und behalten ihren Sprachvorsprung ein Leben lang. Sie lernen auch immer besser, sich auf eine Sache zu konzentrieren – eine andere wichtige Fähigkeit für den späteren Erfolg nicht nur in der Schule. Natürlich sitzen sie zu Anfang nicht einfach nur da und hören sich die ganze Geschichte still an. Babys wollen auf die Bilder zeigen und hören, wie ihr Vorleser ihnen erzählt, wie das heißt: „Ja, genau, das ist eine Katze! Wie macht die Katze denn?“ Sie wollen mitmachen und mitbestimmen: welche Seite angeguckt wird und wie oft. Babys zeigen ihren Erwachsenen, woran sie Spaß haben. Beim Bücherbegucken wie bei allem anderen muss man sie beobachten, um zu merken, was sie brauchen.

Lachen und Quatsch machen gehört dazu.

Niemand spürt so gut wie die Babys selbst, was sie schon verstehen und welcher nächste Entwicklungsschritt ansteht. Und der ist nicht bei allen Kindern gleich. Darum dürfen sie jederzeit unterbrechen, dürfen vor- und zurückblättern und auch mal in die Pappseiten beißen. Allmählich begreift trotzdem jedes Kind, dass Bücher Geschichten erzählen, und allmählich will auch jedes Kind sie hören. Aber nicht zu Anfang. Da geht es noch hin und her, da müssen tausend Fragen beantwortet werden, da darf dabei auch ordentlich gelacht und Quatsch gemacht werden, und manches Kind denkt sich selbst etwas zu den Bildern aus. Bücherbegucken soll Eltern wie Kindern vor allen Dingen Spaß machen, Großen wie Kleinen. Mit Spaß lernt man am besten!

Bücherspaß für Kinder bis 3 Jahren.

Und was ist nun die beste Art, mit Babys und Kleinkindern Bücher anzugucken? Babys lernen mit allen Sinnen.
Sie wollen ein Buch greifen, hochhalten, anbeißen. Sie wollen noch keine ganze Geschichte vorgelesen bekommen, aber sie lieben vertraute Stimmen, Reime, Lieder, Fingerspiele und Kniereiter. Und sie lieben endlose Wiederholungen, weil sie sich freuen, etwas wiederzuerkennen. Uns muss also gar nicht ständig etwas Neues einfallen! Probieren Sie doch einfach mal die Reime und Fingerspiele aus unserer Broschüre aus. Sicher ist auch für Ihr Baby ein Lieblingsreim dabei.

Zwischen einem und zwei Jahren …

… machen ihnen noch immer dieselben Dinge Spaß. Aber jetzt lieben sie es auch schon, wenn man ihnen kleine Geschichten erzählt, in denen sie selbst vorkommen und all die Dinge, die sie aus ihrem Alltag kennen: aufstehen, waschen, essen, Windel wechseln, einkaufen gehen. Sie sind begeistert, wenn wir beim Vorlesen Tierstimmen nachmachen und lustige und kräftige Wörter einstreuen: Bummm!!! und Krach!!! und Karacho!!! und was uns sonst noch so einfällt. Sie lieben jede Art von Quatsch. Wenn wir vorlesen, dürfen sie umblättern, weil sie jetzt schon groß sind und das vorsichtig, vorsichtig können. Und sie möchten mitmachen beim Bücherbegucken. Sie wollen, dass wir sie fragen: „Ach du je, wer hat sich denn da unter dem Tisch versteckt?“ Dann können sie es uns sagen.

Mit ungefähr drei Jahren …

… gilt all dies immer noch. Aber jetzt verstehen die Kinder schon viel und mögen schon länger zuhören. Sie möchten selbst entscheiden, welche Geschichte sie hören und welches Buch sie angucken möchten. Sie mögen Quatschgeschichten und Tiergeschichten und Geschichten, in denen verrückte Dinge passieren, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Zu aufregend sollten sie nicht sein und gut ausgehen müssen sie unbedingt. In Geschichten wird immer alles gut: Das lässt Kinder hoffen, dass es auch in der Wirklichkeit so ist. Wer mit seinen Kindern regelmäßig Bücher ansieht, gibt ihnen etwas Unersetzliches für ihr ganzes Leben mit. Nicht nur, dass die gemeinsame Bücherzeit Geborgenheit und Spaß bedeutet; nicht nur, dass Bücherkindern das Lernen leichter fallen wird, sie besitzen auch ihre Leben lang in jeder Situation eine Quelle für Spaß und Spannung und Trost. Darum sollten wir uns und unseren Kindern diese tägliche halbe Stunde schenken.

Die Hamburger Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie ist Buchstart-„Botschafterin“ der ersten Stunde. Sie hat für ihre Bücher zahlreiche Preise erhalten, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis und den Evangelischen Buchpreis. Kirsten Boie engagiert  sich seit vielen Jahren – auch auf internationaler Ebene – für die Leseförderung.